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Ungegliedertes Dunkel

 

Ein hängendes Wesen in verschossenem Weiß, das, wie durch den Sog eines unsichtbaren Grundes, nach unten gezogen wird. Eine nachtschwarze Landschaft, gefaltetes Gelände, unruhiger, instabiler Grund; auch die Objekte, die aus dem faltigen Grund hervorgehen: schemenhaft, unbestimmt, nicht ganz Gestalt. Ein leuchtend-blauer Faltenwurf, der mit unberechenbarer Kraft scheinbar aus dem Nichts entspringt. Gesichtslose Gestalten, die aus dem Spiel von Falten und Gesten konturhaft werden und zugleich zweifelhaft: als ob sie ihre unabgeschlossene Formwerdung in die Obskurität geführt hätte.


Die Aura des „ungegliederten Dunkel“ (Elfriede Jelinek), die die Kunstwerke von Agnes Lammert umgibt, wirken anziehend und unheimlich zugleich. Falten, schreibt Gilles Deleuzes, „induzieren eine irreduzible Pluralität“. Die Falte kann auf kein einzelnes Ereignis zurückgeführt werden, aber sie ist Hinterlassenschaft, Signatur einer vergangenen und potentiell immer auch gegenwärtigen Kraft. Was die Faltung verhüllt – ihr Geheimnis –, ist dem Blick der Beobachterin zwar entzogen, verbirgt sich aber direkt unter der Oberfläche. Die Unbestimmtheit, die zugleich eine Ahnung ihrer Form, ihrer Bestimmung gibt, lässt an das Unterhalb der Bewusstseinsschwelle denken – keine innere Tiefe, kein wahrer Kern, aber eine Grenze des Bewusstseins, der Wahrnehmbarkeit und Bestimmbarkeit.
 

Agnes Lammerts Kunst, das Spiel der Verhüllung und Faltung, steht einer Wahrnehmungsform von Welt als gleichartig, feststehend und transparent radikal entgegen. Sie zeigt auf drastische Weise, wie etwas aus einer dunklen Unbestimmtheit hervorgegangen ist und eben deshalb die Erfahrung der Negativität in sich trägt. Und vielleicht zeigt sie damit auch uns – den Beobachterinnen und Beobachtern ihrer Werke – das Abseitige, Abgewandte, Monströse, Verborgene als unsere eigene, unheimlich vertraute Form.
Warum wirken ihre Werke auch unheimlich? Vielleicht, weil sie an die Brüchigkeit und Unabgeschlossenheit aller Versuche der Formwerdung und Bestimmung erinnert – auch der eigenen Selbstbestimmung. Damit würde sie – ganz „sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit“ (Walter Benjamin) – sichtbar machen, was der Selbstreflexion entgeht, sich der rationalen Verfügung entzieht: der immer schwankende Grund der eigenen Existenz.

 

Agnes Lammerts Werke sind, wie jedes Kunstwerk, Form. Aber das Besondere an ihrer Kunst ist, dass sie den „Grund und Anfang [ihrer] Formwerdung“ (Christoph Menke), die Formlosigkeit, mit darzustellen vermag. Sie kann in der Herstellung der Form den formlosen Grund und die unendliche Offenheit der Formwerdung gleichsam bewahren. Sie vermag den Moment einzufangen, der vor der Vollendung, Enthüllung, Entfaltung liegt – und doch nicht Nichts, nicht formlos ist. Indem sie etwas zeigt und zugleich nicht zeigt, indem sie in der Verhüllung auch etwas enthüllt, schafft sie eine Erfahrung dessen, was alles noch möglich wäre. Sie zeigt durch das Spiel der Verhüllung und Faltung, dass immer auch etwas anderes als das Gegenwärtige sein könnte. In diesem Sinn ist sie eine Kunst der Freiheit.


Nikolaus Schulz

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